Kobolde im Haus
Seit ich denken kann, wohnen sie mit uns zusammen: Kobolde. Und vor einiger Zeit hat sich wieder einer eingenistet. Wo genau, kann ich nicht sagen. Aber er ist da. Definitiv.
Anders vermag ich es mir nicht zu erklären, dass erneut etwas verschwunden ist: diesmal die SD-Karte aus unserer neuen Digitalkameram mit den Bildern von Opa Heinrichs 95. Ein Fauxpas, der nicht passieren durfte, denn ich allein hatte den Auftrag, dieses denkwürdige Ereignis fotografisch festzuhalten. Alle sind sauer, besonders Opa. Aber ich habe die Karte ganz sicher nicht aus der Kamera genommen.
Ich wüsste auch zu gern, wo der Kobold einen meiner Winterstiefel versteckt hat. Nicht irgendeinen, sondern den besonders teuren und super bequemen natürlich. Dieser linke ist schon lange spurlos verschwunden. Damit ich ihn finde, bevor der Frühling kommt, habe ich unsere Wohnung auf den Kopf gestellt: Truhen geleert, die Betten vorgerückt, alle Schubladen ausgeräumt und sogar den schweren Kleiderschrank von der Wand geschoben. Nichts. Der Schuh ist tatsächlich nicht da. Das bestätigt meine Theorie von einem diebischen Hausgeist, denn eine der überlebenswichtigen Regeln für einen Kobold besagt, er solle sich niemals seinen linken Schuh stehlen lassen. Vermutlich ist ihm aber genau das passiert.
Kobolde sind Hausgeister, die die Bewohner gern necken, ohne jedoch großen Schaden anzurichten. Und die meisten von ihnen stehlen nicht, habe ich gelesen. Aber sie seien immer interessiert an allerlei Glitzerzeug und Schätzen, die nur für sie selbst etwas wert seien, ob Glöckchen, Knöpfe oder Haarspangen. Ja – Haarspangen liebt unserer ganz besonders. Meine Tochter kann überhaupt nicht so viele verlieren wie abhanden kommen.
Doch das ist nicht alles was wir vermissen. Immer wieder verschwinden CD’s, mal nur die Hüllen, USB-Sticks , Puzzleteile, Zeitschriften mit besonders interessanten Artikeln, die man noch lesen wollte, einzelne Handschuhe und – Ohrringe. Ja, immer fehlt nur einer, nie ein Paar. Ganz zu schweigen von dem Korb voller einzelner Socken, die ihren Partner für immer verloren haben und nun ein nutzloses Singledasein fristen. Unser Kobold muss zu kalten Füßen neigen, auch im Sommer.
Mich würde wirklich interessieren, wo er all unsere Sachen versteckt. Wahrscheinlich wäre ich überrascht, was sich dort noch alles findet, Dinge, deren Fehlen uns noch gar nicht aufgefallen ist.
Kürzlich hatte meine Mann seinen Computer in alle Einzelteile zerlegt. Sofort stürzte ich in die Küche um Salz zu holen. Mein Mann musterte mich, als wäre ich nicht ganz bei Verstand. „Kobolde fürchten sich vor Salz“, war meine wenig überzeugende Antwort. Aber ich war sicher – in einem unbeobachteten Moment würde der diebische Hausgeist eingreifen – vor allem der Prozessor passte in sein Beuteschema – und das Risiko ist erfahrungsgemäß bei Dingen, ohne die das Ganze nicht mehr funktioniert, besonders hoch. Erst spät in der Nacht tauchte meine Mann wieder aus der Versenkung auf: mit leuchtenden Augen wie ein kleiner Junge. Der PC funktionierte, nichts war abhanden gekommen.
Die Vorsichtsmaßnahme war also erfolgreich gewesen! Nur soll ich jetzt deswegen überall in den Zimmern, Betten und Schränken Salz verstreuen, bloß damit nichts mehr wegkommt? Nein, dann doch lieber ein paar neue Socken kaufen, einen USB-Stick ersetzen und sich an neuen Ohrringen erfreuen. Klare Sache. Meinen einsamen Lederschuh werfe ich weg. Und wir tragen die Socken von nun an nicht mehr paarweise, sondern kunterbunt. Dann fällt es nicht mehr auf, wenn eine fehlt.